Die Kunst schult das Auge. So hätte nach unseren Sehgewohnheiten der Apostel Thomas die Hände des Auferstandenen berührt. Im Evangelium steht das freilich nicht. Und mit der gängigen Darstellung der Wundmale verharmlost die bildende Kunst den entsetzlichen Foltertod Jesu.
Die Kreuzigung als besonders schändliche Hinrichtungsart war nach 320 unter Kaiser Konstantin verboten worden. Bis zu den ältesten Darstellungen des Gekreuzigten im ausgehenden sechsten Jahrhundert war somit kein Henker mehr nach dieser brutalen Technik zu befragen. Wegen der Symbolik der Hand, die vom Handschlag bis zur Salbung der priesterlichen Hand bei der Weihe mit Bedeutungen schier überfrachtet ist, und besonders auch wegen der erstmals 1224 bei Franz von Assisi auftretenden Stigmatisatio-
nen wurden die Nägel stets durch die Handteller getrieben dargestellt.
Durchs Handgelenk
Dabei bedurfte es keiner besonderen anatomischen Kenntnisse, um bald zu bemerken, dass bei der traditionellen Ikonographie das Körpergewicht des hingerichteten Jesus seine Hände schlichtweg aufgerissen hätte. Kreuzigungsdarstellungen mit Anbinden, Stützleitern und kleinem Podest für die Füße gehen auf den sogenannten Pseudo-Bonaventura zurück (das detailfreudige Werk entstand um 1350) und verbreiteten sich dank der Visionen der heiligen Birgitta von Schweden († 1373).
Ein stützendes Anbinden der Arme ans Kreuz macht allerdings den „Witz“ an der Kreuzigung als Foltertod zunichte. Römische Henker trieben die Nägel durch den sogenannten Destot’schen Raum, der durch einen häufig praktizierten Eingriff auch als Karpaltunnel bekannt ist. Diese von Bindegewebe straff umschlossene Röhre durch die Handwurzelknochen ist nicht nur der anatomisch solideste Punkt; durch sie verläuft auch der sensorische und motorische Mediannerv, dessen Verletzung unerträgliche Schmerzen verursacht.
„Tanz des Gekreuzigten“
Für diese höllische Folter, die oft mit sofortiger Bewusstlosigkeit einherging, prägten die Römer einen eigenen Begriff: „Excruciare“ bezeichnet die entsetzlichste Qual, die man sich nur ausdenken kann und die genau mit dieser Kreuzigungstechnik auch beabsichtigt war. Die Henker wussten dem „Tanz des Gekreuzigten“ beim Aufrichten des Holzes noch eins draufzusetzen, wenn sie auch die Fersenbeine mit Nägeln durchschlugen. Der Gepeinigte konnte weder die Füße noch die Handgelenke entlasten, ohne noch reißendere Schmerzen zu erdulden.
Das Turiner Grabtuch weist nicht nur die Wundmale richtig an den Handwurzelknochen auf, sondern zeigt von oben gesehen nur vier Finger. Das ist anatomisches Sonderwissen, das erst in den 1930er Jahren im Rahmen von Rekonstruktionsversuchen am Grabtuch gewonnen wurde: Durch die Verletzung des Mediannervs legt sich der Daumen mechanisch in die Handfläche. Doch abgesehen davon, dass dieses Detail ein ernstzunehmendes Echtheitskriterium für das Grabtuch darstellt, sind seine Auswirkungen für die Geschichte der Kunst gleich null, obwohl es ab 1578 regelmäßig ausgestellt wurde.